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Apr 06 2020

Ansteckungsdynamik brechen – Gesellschaft zurück auf Normalbetrieb

Drei Voraussetzungen für großflächige Tests und gezielte Isolierung

Die Bundesregierung hat in den vergangenen Wochen zu Recht immer stärkere Maßnahmen eingeleitet, um die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen. Andernfalls würden sich sehr viele Menschen in kurzer Zeit infizieren, vermutlich 60 bis 70 % der Bevölkerung in Deutschland. Wenngleich Deutschland im internationalen Vergleich eine der höchsten Kapazitäten an Intensivbetten je Einwohner hat und diese weiter aufgestockt werden sollen, hätten bei einer ungebremsten Ausbreitungsdynamik nach RWI-Berechnungen innerhalb von sechs bis sieben Wochen rund 80 % der Menschen mit intensivmedizinischen Bedarf abgewiesen werden müssen. Dann hätten sich mehrere Hunderttausend Todesfälle aufgrund von Covid-19 in Deutschland nicht mehr vermeiden lassen.

Die inzwischen eingeleiteten härteren Maßnahmen werden im Erfolgsfall dazu führen, dass die Ausbreitung des Virus deutlich verlangsamt wird. Damit könnte die Anzahl der Infizierten zwar vermutlich immer unterhalb der Schwelle bleiben, ab der hilfesuchende Menschen von Krankenhäusern abgewiesen werden müssen. Modellrechnungen des RWI, die auf den immer deutlicher werdenden Daten zum Schadenspotential des Erregers beruhen, zeigen dass dann nur noch rund 200.000 Covid-19-Todesfälle zu beklagen wären. Sie zeigen jedoch auch, dass man diese Strategie voraussichtlich sechs bis sieben Monate in Kraft setzen müsste, um das Gesundheitssystem nicht zu überlasten.

Da Volkswirtschaft und Gesellschaft dieser Zustand gleichermaßen belastet, wird die Politik aber über kurz oder lang Lockerungen zulassen müssen. Mit jeder Lockerung würde jedoch erneut die Überlastung des Gesundheitssystems riskiert. Doch zugleich gilt: Je länger die jetzt eingeschlagene Strategie verfolgt wird, desto desaströser wird die Funktionsfähigkeit unserer Volkswirtschaft beschädigt. Dies könnte unsere Gesellschaft durch eine Flut von Insolvenzen und Massenarbeitslosigkeit ihrer Existenzgrundlage berauben.

So schnell wie möglich umschwenken: großflächige Tests als Strategie

Den einzigen Ausweg aus diesem Dilemma bietet eine Anpassung der bisherigen, aus der Not mangelnder Alternativen eingeschlagene Strategie, alle Menschen in Deutschland, Infizierte und Nicht-Infizierte, unter eine Quasi-Quarantäne zu stellen. So rasch wie möglich sollte jetzt auf eine alternative Strategie umgeschwenkt werden, die sich konsequent auf die Infizierten und auf die Verdachtsfälle konzentriert. Diese alternative Strategie würde auf den massiven Einsatz von Testverfahren, das Auswerten von Informationen über Kontakte und Aufenthaltsorte sowie die konsequente Isolierung von Infizierten setzen. Würde uns dies gelingen, ließe sich der massive Anstieg von Neuinfektionen verhindern und zugleich Wirtschaft und Gesellschaft wieder in Richtung Normalbetrieb bewegen. Dass dies im Prinzip gelingen könnte, zeigen die Erfahrungen asiatischer Staaten wie Südkorea oder Singapur.

Um auch hierzulande einen solchen Weg erfolgreich beschreiten zu können, müssten drei Voraussetzungen erfüllt sein:

1. technologische Voraussetzungen: Das Ziel muss es sein, die Tests sehr großflächig auszuweiten. Wir brauchen unter anderem ein massives Hochfahren der Produktion von Testmaterial, den Aufbau so genannter Drive-Through-Teststationen, in denen sich jeder Bürger unkompliziert und schnell testen lassen kann, kurzfristig geschultes Personal, das die Testprotokolle durchführt, und entsprechende Laborkapazitäten. Wenn möglich sollten generell Tests außerhalb von Kliniken und Arztpraxen durchgeführt werden, um die Sicherheit des Gesundheitspersonals durch minimalen Kontakt zu gewährleisten. Mit systematischen flächendeckenden Tests können infizierte Personen früh erkannt, sofort isoliert und behandelt werden, um dem Virus die Chance zur Weiterverbreitung zu nehmen. Dies bedeutet einen gewaltigen Kraftakt, der jedoch geleistet werden muss. Unabdingbar ist außerdem eine App für jeden Bürger, die sofort mitteilt, ob sich an einem Ort, an dem man selbst war, eine inzwischen als infiziert registrierte Person aufgehalten hat und man in diesem Fall einen Test für sich durchführen sollte. Sie ist aber auch nötig für ein aussagekräftiges und zeitnahes Berichtswesen zum aktuellen Stand sowie zur Kalibrierung der epidemiologischen Modelle.

2. prozedurale Voraussetzungen: Ein Krisenstab der Bundesregierung (u.a. Bundesgesundheitsministerium, Bundesinnenministerium.) muss umgehend standardisierte Verfahren der digitalen Informationssammlung, der Durchführung und der Koordination schaffen und entsprechende Gesetze und Verordnungen auf den Weg bringen.

3. verbindliche Mitwirkung: Die Bürgerinnen und Bürger sollten bereit sein, vorübergehend – für die Dauer der Krise – auf den Datenschutz in Bezug auf ihre Mobilität zu verzichten. Eine Hilfe für Einzelne ist in anonymer Form kaum effektiv machbar. Das Gesundheitswesen muss ohne Verzögerungen wissen, wo positiv Getestete sich aufgehalten haben und welche anderen Personen nun ebenfalls getestet werden müssen, weil sie sich am selben Ort aufgehalten haben. Der Preis, der dafür zu zahlen ist, ist in Anbetracht der Alternativen ein kleiner. Wie Erfahrungen aus Südkorea zeigen, lohnt sich dieser, um das Virus mit einer gesamtgesellschaftlichen Anstrengung in die Schranken zu weisen.

Eine Bundesregierung, die das medizinische und das ökonomische Desaster gleichermaßen abwenden will, muss sich entschlossen für diese angepasste Strategie entscheiden. Sie sollte allerdings klar machen, dass dies nur ein temporärer Eingriff zur Abwendung der Krise ist. Nach Corona können und sollten diese Maßnahmen wieder zurückgenommen werden. Doch jetzt ist nicht die Zeit für Bedenkenträger: Eine Gesellschaft, die morgen noch die Möglichkeiten haben will, die Entfaltung von vielfältigen individuellen Lebensentwürfen in einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung zu verwirklichen, muss jetzt die Solidarität aufbringen, in dieser Krisenphase mit der Übermittlung von Mobilitätsdaten einverstanden zu sein.

Von Boris Augurzky und Christoph M. Schmidt, RWI

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