Tödliche Kollateralschäden der Corona-Pandemie
Wie tödlich ist Corona, welche Gefahren lauern im Hintergrund der Pandemie und welche Auswirkungen hat die verminderte Inanspruchnahme der medizinischen Notfallversorgung während der Corona-Hochphase? Diesen Fragen hat sich jüngst eine Arbeitsgruppe der Klinikum Hochrhein GmbH gestellt.
Die Vermeidung der Überlastung „des Gesundheitssystems“ dürfte einer der häufigsten Sätze im Zuge der Corona-Pandemie sein. Bereits im Januar 2020 fürchtete man eine ebensolche Überlastung und legt eine Reihe von Maßnahmen auf, um besonders verletzbare Bevölkerungsgruppen zu schützen. Die medial transportierten Ziele, aber auch die Ängste zeigten Wirkung, die AHA Regeln wurden eingehalten und das öffentliche Leben kam weitgehend zum Stillstand. Der Lockdown brachte jedoch auch unerwünschte Nebeneffekt hervor, denn weltweit häuften sich die Meldungen, dass die Fallzahlen in der medizinischen Notfallversorgung während der ersten Phase der Corona-Pandemie, erheblich zurückgegangen seien.
Experten befürchten daher Gesundheitsschäden und Todesfälle durch ausbleibende oder verzögerte Inanspruchnahme medizinischer Hilfe bei akuten Erkrankungen, die mit COVID-19 gar nicht im Zusammenhang stehen und sprechen in diesem Zuge von möglichen „Kollateralschäden“ (Corona Collateral Damage Syndrom).
Um dazu verlässliche Aussagen liefern zu können, hat eine Arbeitsgruppe am Klinikum Hochrhein im südbadischen Waldshut in Zusammenarbeit mit der Integrierten Leitstelle Waldshut das Geschehen im Zeitraum 24.02. bis 31.05.2020 (Kalenderwoche 9 bis 22) analysiert und legt jetzt die Ergebnisse vor:
Im Untersuchungszeitraum war die Inanspruchnahme der medizinischen Notfallversorgung auch im Landkreis Waldshut deutlich rückläufig. In der Notaufnahme des Klinikums Hochrhein lag die Fallzahl 34,9 Prozent unter dem gleichen Zeitraum des Vorjahres, im Rettungsdienst gingen die Einsätze um 11,8 Prozent zurück. Der Rückgang begann bereits in der 9. Kalenderwoche, lange bevor in der Region überhaupt der erste COVID-19 Fall bestätigt wurde. Diese Entwicklung betraf in besonderem Ausmaß stationäre Notfallaufnahmen von Patienten mit chronischen Erkrankungen (Lungenerkrankungen, Herzschwäche, Tumorleiden), deren Zustand sich akut verschlechtert hatte oder die an Komplikationen litten. Hier lag der Rückgang der Fallzahlen im Untersuchungszeitraum bei durchschnittlich 50 Prozent, bei alleiniger Betrachtung des Monats April sogar bei 73,3 Prozent. Gleichzeitig war im April 2020 in dem Versorgungsbereich – berechnet nach der Methodik des statistischen Bundesamtes – eine Übersterblichkeit von insgesamt 37,4 Prozent nachweisbar, die nach Herausrechnen der an oder mit COVID-19 verstorbenen Menschen immer noch bei 16,8 Prozent lag und damit hoch signifikant war.
Bei den Einsätzen des Rettungsdienstes zeigte sich entgegen dem insgesamt rückläufigen Trend eine signifikante Zunahme der Notfallversorgungen ohne anschließenden Transport in ein Krankenhaus („Transportverweigerung“; +11,7 Prozent) sowie eine auffallende Zunahme des Alarmierungsstichwortes „vermutlich Todesfeststellung“ von +105 Prozent – also einer Verdopplung. Dieses Stichwort wird durch die Leitstelle vergeben, wenn bei Auffinden einer leblosen Person klare Hinweise auf eine längere Liegedauer oder das Vorliegen sichere Todeszeichen gegeben sind.
Die Zunahme der primären Todesfeststellungen im Rettungsdienst korrelierte signifikant mit dem Rückgang der stationären Notfallaufnahmen. Die im April 2020 festzustellende Übersterblichkeit in dem genannten Versorgungsbereich kann mithin nur zu etwa 55 Prozent auf Todesfälle an oder mit COVID-19 zurückgeführt werden.
Auch wenn ein lückenloser Beweis einer Kausalität nicht möglich sein wird, sprechen die Ergebnisse dafür, dass es im Zusammenhang mit einer verminderten Inanspruchnahme notfallmedizinischer Strukturen zu einer sekundären pandemischen Mortalität („Collateral Damage Syndrom“) mit einer quantifizierbaren Übersterblichkeit von mehr als 16 Prozent gegenüber dem Durchschnitt der Vorjahre gekommen ist. Hiervon betroffen waren in erster Linie Menschen mit schwerwiegenden chronischen Erkrankungen.
Diese Entwicklung ist nicht allein durch das regionale Infektionsgeschehen von COVID-19 und der daraus resultierenden Angst in der Bevölkerung zu erklären. Vielmehr legen die Ergebnisse nahe, dass auch die erlassenen Kontaktbeschränkungen und die geforderte soziale Distanzierung zur Entwicklung des Kollateralschadens beigetragen haben. Insbesondere bei älteren Menschen mit chronischen Vorerkrankungen, die durch die getroffenen Maßnahmen besonders geschützt werden sollten, sind es gerade die Angehörigen als unterstützendes Netzwerk, die häufig eine Inanspruchnahme medizinischer Hilfe als Katalysatoren anstoßen. Soziale Distanzierung hat offenbar zu einer verstärkten Isolation und weniger Besuchen von Angehörigen gerade in der Gruppe der Risikopatienten geführt. Diese Annahme wird unter anderem durch die signifikante Zunahme der Einsätze mit primärer Todesfeststellung gestützt. Letztlich ist festzustellen, dass die gesamte öffentliche Kommunikation und Berichterstattung ausschließlich auf das Thema COVID-19 fokussiert war und noch immer ist.
Andere bevölkerungsmedizinisch relevante Gesundheitsthemen sind in der ersten Phase der Pandemie völlig in den Hintergrund getreten, offenbar auch in der Wahrnehmung der Patienten und der Bevölkerung.
Vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklung der Pandemie und für zukünftige vergleichbar Situationen ist empfiehlt der Leiter der Arbeitsgruppe, Dr. med. Stefan Kortüm, Chefarzt der Zentralen Notaufnahme am Klinikum Hochrhein, die Krisenkommunikation und die mediale Berichterstattung ausgewogener zu gestalten, um Menschen mit akuten gesundheitlichen Problemen nicht von der Inanspruchnahme der erforderlichen medizinischen Hilfe abzuhalten. Kontaktbeschränkungen sollten insbesondere im privaten Umfeld kritisch geprüft und auf das objektiv notwendige Minimum beschränkt werden.