Nervenzellen benötigen eine Menge Energie und Sauerstoff. Beides erhalten sie über das Blut. Daher ist Nervengewebe in der Regel von einer Vielzahl von Adern durchzogen. Doch was verhindert, dass sich Neuronen und Gefäßzellen bei ihrem Wachstum ins Gehege kommen? Forschende der Universitäten Heidelberg und Bonn haben zusammen mit internationalen Partnern einen Mechanismus identifiziert, der das sicherstellt. Die Ergebnisse sind nun in der Zeitschrift Neuron erschienen.
Nervenzellen sind ausgesprochen hungrig. So fließt rund jede fünfte Kalorie, die wir über die Nahrung zu uns nehmen, in unser Gehirn. Denn die Erzeugung von Spannungspulsen (den Aktionspotenzialen) und ihre Übertragung zwischen den Neuronen ist sehr energieintensiv. Daher ist Nervengewebe in der Regel von zahlreichen Blutgefäßen durchzogen. Sie stellen die Versorgung mit Nährstoffen und Sauerstoff sicher.
Bei der Embryonalentwicklung sprießen also im Gehirn und Rückenmark, aber etwa auch in der Netzhaut des Auges jede Menge Gefäße heran. Zudem entstehen dort massenhaft Neuronen, die sich untereinander und mit Strukturen wie Muskeln und Organen vernetzen. Beide Prozesse müssen aufeinander Rücksicht nehmen, um sich nicht ins Gehege zu kommen. „Wir haben einen neuen Mechanismus identifiziert, der das sicherstellt“, erklärt Prof. Dr. Carmen Ruiz de Almodóvar, Mitglied im Exzellenzcluster ImmunoSensation2 und im Transdisziplinären Forschungsbereich Life & Health der Universität Bonn.
Die Wissenschaftlerin ist Anfang 2022 an das Institut für Neurovaskuläre Zellbiologie des Universitätsklinikums Bonn gewechselt. Sie bekleidet seit diesem Frühjahr eine der speziell eingerichteten Schlegel-Professuren, mit denen die Universität herausragende Forschende nach Bonn holen möchte. Der größte Teil der Arbeiten erfolgte jedoch noch an ihrer alten Wirkungsstätte, am European Center for Angioscience der Medizinischen Fakultät Mannheim, die zur Universität Heidelberg gehört. An der Universität Bonn wurden sie dann zu Ende geführt. In ihrer Studie hat sie zusammen mit internationalen Partnern die Gefäßbildung im Rückenmark von Mäusen unter die Lupe genommen.
Wachstumspause in der Wirbelsäule
„Die Anlage von Gefäßen im Rückenmark beginnt bei den Tieren etwa 8,5 Tage nach der Befruchtung“, sagt sie. „Zwischen Tag 10,5 und 12,5 legen die Gefäßzellen aber eine Pause ein. Und das, obwohl in dieser Zeit in ihrer Umgebung große Mengen wachstumsfördernder Moleküle vorhanden sind. Stattdessen wandern in dieser Zeit zahlreiche Nervenzellen – die Motorneuronen – von ihrem Entstehungsort im Rückenmark zu ihrer endgültigen Position. Dort bilden sie dann Ausläufer, die Axone, die von der Wirbelsäule zu den verschiedenen Muskeln führen.“
Die Motorneuronen nutzen also die Ruhephase der Gefäßzellen, um sich selbst zu organisieren und heranzuwachsen. Erst danach beginnen die Gefäße wieder zu sprießen. „Das Ganze ähnelt einem fein abgestimmten Tanz“, erklärt José Ricardo Vieira. Der Doktorand in Ruiz de Almodóvars Arbeitsgruppe hat einen großen Teil der Arbeiten in der Studie durchgeführt. „Dabei nimmt jeder Partner darauf Rücksicht, dass er dem anderen nicht in die Quere kommt.“
Doch wie wird dieser Tanz koordiniert? Offensichtlich, indem die Motorneuronen den Gefäßzellen eine „Stopp, jetzt bin ich dran“-Botschaft zurufen. Dazu dient ihnen ein Protein, das sie in ihre Umgebung abgeben – das Semaphorin 3C (Sema3C). Es diffundiert zu den Gefäßzellen und dockt dort an einem Rezeptor namens PlexinD1 an – das ist gewissermaßen das Ohr, für das die molekulare Botschaft bestimmt ist.
Ertaubte Gefäßzellen wachsen unkontrolliert
„Wenn wir in Mäusen die Produktion von Sema3C in den Neuronen unterbinden, dann bilden sich in der Region, in der sich diese Neuronen befinden, vorzeitig Blutgefäße“, sagt Prof. Ruiz de Almodóvar. „Dadurch können sich die Axone der Nervenzellen nicht mehr korrekt entwickeln – sie werden durch die Gefäße daran gehindert.“ Einen ähnlichen Effekt hatte es, wenn die Forschenden experimentell die Bildung von PlexinD1 in den Gefäßzellen stoppten: Da diese nun für das Sema3C-Signal der Neuronen taub waren, stellten sie ihr Wachstum nicht ein, sondern sprossen weiter.
Die Ergebnisse dokumentieren, wie wichtig der koordinierte Ablauf der beiden Prozesse während der Embryonalentwicklung ist. Mittelfristig könnten sie auch zu einem besseren Verständnis bestimmter Erkrankungen beitragen, etwa von Netzhautdefekten, die durch ein starkes und unkontrolliertes Gefäßwachstum entstehen. Auch bei der Regeneration zerstörter Hirnareale, beispielsweise nach einer Verletzung des Rückenmarks, kann die Nutzung des neu entdeckten Mechanismus auf lange Sicht möglicherweise helfen.
Beteiligte Institutionen und Förderung:
An der Studie waren neben der Universität Heidelberg und ihrer Medizinischen Fakultät in Mannheim das Universitätsklinikum und die Universität Bonn, das San Raffaele Scientific Institute in Mailand, das University College London sowie das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen in Bonn beteiligt. Die Arbeiten wurden durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft sowie das European Research Council (ERC) finanziell unterstützt.
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