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Okt 29 2021

Ottmar Miles-Paul – Initiator der Behindertenbewegung in Deutschland

Männer gibt es – Ottmar Miles-Paul

Foto: Irina Tischer

Ottmar Miles Paul, selbst seh- und hörgehandicapt, engagiert sich seit Jahrzehnten in der Behindertenbewegung und ist vermutlich die lauteste Stimme. Bei einem Projekt in Berkeley / San Francisco sieht er, wie Behindertenpolitik in Amerika im wahrsten Wortsinn funktioniert. Diese Erfahrung motiviert ihn zur Gründung einer Reihe von nationalen und internationalen Initiativen von Gehandicapten für Gehandicapte. Er ist Buchautor, Initiator des Onlineportals Kobinet-Nachrichten, und arbeitet in der Öffentlichkeitsarbeit, der Bildung und der Projektgestaltung. Er ist „Landesbeauftragter für die Belange behinderter Menschen“ in Rheinland-Pfalz, war maßgeblich an der Einführung der Europäischen Aktionstage zur Gleichstellung behinderter Mensch, der Entwicklung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland sowie des Bundesteilhabegesetzes beteiligt.

Als diplomierter Sozialarbeiter gründete er die Initiative Interessenvertretung selbstbestimmt Leben in Deutschland e. V. (IsL) über die er unter anderem das Projekt „Inklusionsbotschafter der UN-Behindertenrechtskonvention“, in dem 40 Gehandicapte bei ihren Projekten in den Bereichen Soziales, Wirtschaft, Politik und Forschung finanziell und immateriell unterstützt wurden, entwickelte.

Dazu habe ich als Inklusionsbotschafterin der UN-Behindertenrechtskonvention (ein Projekt von Herrn Ottmar Miles-Paul) ihm einige Fragen gestellt:

Interview

Sie sind Hör- und Sehgehandicapt. Haben Sie diese Einschränkungen von Geburt an?

Sehbehindert bin ich seit meiner Geburt, ich weiß also nicht, wie es ist, anders zu sehen. Meine Hörbehinderung kam mit der Zeit, vor allem aber durch einen Hörsturz während meiner Studienzeit. Mit zunehmendem Alter nimmt diese zu, während die Sehbehinderung ungefähr gleich bleibt.

Mögen Sie etwas darüber erzählen, wie es damals war, als Gehandicapter im Ausland zu leben und zu studieren? Wo lagen die Probleme? Wie unterschied sich die Studien- und Lebenssituation zu Deutschland? 

Als ich im August 1988 von Kassel aus, wo ich Sozialwesen studierte, nach Berkeley bei San Francisco in Kalifornien aufbrach, war das natürlich sehr spannend für mich. Nicht nur, dass meine Englischkenntnisse damals eher mäßig waren, auch die Sehbehinderung forderte mich heraus, mich dort erst einmal zurecht zu finden. Ich hatte aber das Glück, dass ich in Berkeley von vielen wohlmeinenden Menschen sehr nett und unterstützend aufgenommen wurde. Der Geist des Empowerments behinderter Menschen, der gegenseitigen Unterstützung hat es mir damals viel leichter gemacht, mich zurecht zu finden und selbstbewusster zu werden. Auch das andere Verständnis von Behinderung im Sinne einer Antidiskriminierungspolitik, sowie die vielfältigen Unterstützungsangebote an der Uni für behinderte Studierende waren damals ein riesiger Unterschied zu Deutschland. Auch wenn das Krankenversicherungs- und Sozialsystem in den USA nach wie vor zum Teil miserabel ist, das Bewusstsein gegen Diskriminierungen hat mich damals tief beeindruckt und geprägt.

In den 60er/70er-Jahren war das Straßenbild noch von vielen Kriegsversehrten geprägt. Haben Sie den Eindruck, dass die Akzeptanz von Menschen mit Handicap durch die Gesellschaft damals größer war, als heut?

Als ich 1964 geboren wurde und aufwuchs, herrschte in Deutschland u.a. das Sorgenkind-Denken. Die Aktion Sorgenkind war mit Wum und Wendelin ganz groß im Fernsehen und behinderte Menschen tauchten kaum in selbstbewussten Rollen in den Medien auf. Auch im Straßenbild gab es dann in den 80er Jahren kaum Rollstuhlnutzer*innen oder blinde Menschen zu sehen und ich erinnere mich an die ersten Blindenampeln, als ich 1985 nach Kassel zog. Das Thema Behinderung war meines Erlebens nach enorm von Mitleid und verqueren Vorstellungen geprägt. Da hat sich einiges geändert, aber noch längst nicht genug.

Sie haben eine Reihe von Initiativen und Projekte national und international angeschoben. Wie fängt man dabei praktisch an? Sie begannen ja regelrecht bei Null.

Viele Ideen habe ich während meines USA-Aufenthaltes bei der dortigen Independent Living Bewegung behinderter Menschen getankt. Ich habe mir auch in anderen Ländern gute Beispiele angeschaut und diese Ideen in die in Deutschland aufkommende Selbstbestimmt Leben Bewegung behinderter Menschen eingebracht. Und wenn man dann auf andere engagierte behinderte Menschen trifft, den Geist des Peer Counseling und des Peer Support, bzw. Empowerment lebt, kommt eine Idee auf die andere. Und so haben wir begonnen, Initiativen zu gründen. Daraus wurden Vereine, Projektanträge wurden gestellt und Förderungen beantragt. Wenn man damit Erfolge hat, macht man weiter und es erwachsen immer wieder neue Ideen. Mein Glück war, dass ich viele engagierte Menschen mit ganz unterschiedlichen Behinderungen gefunden habe, mit denen man etwas bewegen konnte. Hinzu kommt, dass ich ein sehr pragmatischer Mensch bin. Wenn ich also von einer Idee oder einem Problem höre, arbeitet es sofort in meinem Kopf, was man konkret tun kann.

Wie schätzen Sie heute die Situation von Menschen mit Handicap ein? Hat sich etwas verbessert? Was? Was muss aus Ihrer Sicht vor allem noch besser werden?

Wie haben in einigen Bereichen die traditionelle Behindertenarbeit und -politik etwas herausfordern und verändern können. Aber das sind meist kleine Schritte. Sicherlich hat sich die Lebenssituation behinderter Menschen in den letzten 40 Jahren erheblich verbessert, aber von einer echten Gleichstellung bzw. Inklusion sind wir noch meilenweit entfernt. Viele behinderte Menschen verzweifeln nach wie vor an der Bürokratie und der Auseinandersetzung mit Ämtern, um ihre Rechte zu bekommen. Barrieren sind immer noch allgegenwärtig, ohne dass wir echte Antidiskriminierungsbestimmungen bekommen, so dass auch private Unternehmen ihre Dienstleistungen und Produkte immer noch nicht barrierefrei gestalten müssen. Und viele behinderte Menschen müssen immer noch in Behinderteneinrichtungen leben oder für Hungerlöhne in Werkstätten für behinderte Menschen arbeiten, ohne dass man ihnen echte Alternativen bietet. Es gibt also noch unendlich viel zu tun. Und wir behinderte Menschen müssen noch viel selbstbewusster werden, um unsere Rechte einzufordern und am Leben teilzunehmen.

Wie ist Ihre Wahrnehmung: Tun gehandicapte selbst genug, um die Situation von Gehandicapten zu verbessern?

Wenn man die allgemeine Bevölkerung betrachtet, dann gibt es dort auch sehr viele, die sich nicht für die Verbesserung ihrer Situation einsetzen. So ähnlich ist das auch bei behinderten Menschen. Wir könnten und müssten eigentlich viel mehr sein, die sich engagieren. Andererseits gibt es aber auch eine ganze Menge behinderte Menschen, die sich in Vereinen, Beiräten, Parteien etc. für die Menschenrechte behinderter Menschen engagieren. Wir müssten allerdings noch viel effektiver und zielgerichteter in unserem Engagement werden, um politisch mehr zu erreichen als bisher. Trotz aller Frustrationen, dass sich die Dinge viel zu langsam ändern, bleibe ich jedoch auch weiterhin optimistisch, dass wir noch vieles verändern können und werden. Wichtig ist dabei, dass wir auf Partizipation bei Entscheidungen drängen und die hierfür notwendigen Ressourcen einfordern bzw. schaffen. So wichtig die Selbsthilfe für die einzelnen Menschen ist, so wichtig ist auch, dass wir die Selbstvertretung vorantreiben und stärken

 

Weiterführende Informationen über Ottmar Miles-Paul

Die Biografie von Herrn Miles-Paul in Textform

 

Mit der Carl-von-Ossietzky-Medaille ausgezeichnet

 

Newsletter für Engagement und Partizipation in Deutschland  

 

Selbstbestimmung behinderter Menschen

 

USA-Aufenthalt  mit Sprachinfo

 

Wie Sie die UN-Behindertenrechtskonvention durchsetzen können

 

Wenn es eine Selbstvertretung behinderter Menschen nicht gab, mussten wir das halt selbst gründen (ISL).

 

Internationale Liga für Menschenrechte Kurzvorstellung

 

Vorstellung der kobinet-Nachrichten durch Miles-Paul

 

ausführliche Biografie

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